Kapitel 1
Irgendwann in der Zukunft, der genaue Zeitpunkt spielt keine Rolle.
Jedoch mindestens 25 Jahre nach »Schloss der Schatten – Der Geschmack von Blut«.
Allerdings eher deutlich später.
Aber wie gesagt: Darauf kommt es nicht so genau an.
»Danke, dass du auf Nelli aufgepasst hast.«
Erschöpft ließ Ela sich auf die Couch im Wohnzimmer ihrer besten Freundin fallen, während ihre fünfjährige Tochter davonstob, um ihre Sachen zusammenzupacken.
Katja warf Marcela einen strengen Blick zu. »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Da gibt es nichts zu danken! Du weißt, dass ich die kleine Zuckerschnute liebe, als wäre sie meine eigene. Also noch mal zum Mitschreiben: Ich. Mache. Das. Gerne!«
Dabei klaubte sie eine Reihe bunter Plastikspangen aus ihren Haaren, die Nelli ihr kunstvoll hineinfrisiert hatte. Mit den unterschiedlich dick geflochtenen Zöpfchen glich Katjas blonde Mähne der eines zwar liebevoll, aber sehr unsachgemäß zurechtgemachten Dressurpferdes.
Der Anblick brachte Ela unwillkürlich zum Schmunzeln. »Auch wenn du die nächste Stunde damit beschäftigt sein wirst, dieses Rasta-Desaster zu entwirren?«
»Marcela Gonzales-Ndugu, wie sprichst du denn von den Frisierkünsten deiner Tochter? Das ist kein Desaster, das ist eine Garantie, morgen endlich mal etwas Volumen und Bewegung in den Haaren zu haben. Die Zöpfchen bleiben drin. Nicht jeder hat das Glück, mit einem üppigen Lockenschopf gesegnet zu sein.« Sie deutete auf Elas Afrokrause, bevor sie mit spitzen Fingern eine Strähne ihres eigenen Haares anhob, die Nellis Flechtkünsten irgendwie entgangen war. »Es gibt Leute, die tragen von Natur aus Schnittlauch. Ah! Apropos: Willst du einen Green-Smoothie? Ich habe da ein neues Rezept …«
»Alles, nur das nicht!« Ela fuchtelte in gespieltem Entsetzen abwehrend durch die Luft. »Das habe ich nach einem langen Arbeitstag nun wirklich nicht verdient.«
Sie wusste, dass Katja sich – nicht ganz zu Unrecht – Sorgen um sie machte und alles in ihrer Macht stehende tat, ihr etwas Gutes zukommen zu lassen. Doch ihre grünen Wunderdrinks brachte Ela beim besten Willen nicht hinunter. Im Gegensatz zu Nelli, die die Vitaminbomben liebte, was ungewöhnlich für ein Kind ihres Alters war. Doch Marcela war dankbar dafür, denn frisches Obst und Gemüse waren teuer, weswegen sie es sich nur selten leisten konnte.
»Na schön«, lenkte Katja ein. »Dann nimm dir wenigstens noch Zeit für einen Kaffee.«
Ela seufzte. »Würde ich ja gerne. Aber ich muss heute unbedingt noch diesen Artikel fertig schreiben.«
»Wir haben 23.14 Uhr!«, bemerkte Katja entsetzt.
»Ich habe Zeit bis 2.00 Uhr.«
Die Freundin schaute sie besorgt an. »Du arbeitest zu viel, Süße.«
»Ich weiß.« Marcela fuhr sich müde über das Gesicht. »Aber ich muss Rocco schnellstmöglich das restliche Geld für die Überfahrt zurückzahlen. Du weißt, was passiert, wenn ich das nicht schaffe. Aber es fehlt nicht mehr viel.«
»Rocco ist ein Krimineller, ein Schleuser, ein Dealer und was weiß ich alles noch!«, brauste Katja auf, dämpfte ihre Stimme jedoch aus Rücksicht auf Nelli sofort wieder. »Es fehlt noch viel zu viel, und das weißt du auch«, fuhr sie leiser, aber genauso eindringlich fort. »Er und seine Bande werden dich niemals aus ihren Fängen lassen. Du hattest es vor zwei Jahren schon mal fast geschafft – und dann hat er von einem Tag auf den anderen irgendwelche ominösen Verzugszinsen erfunden, sodass du ihm plötzlich das Doppelte schuldig warst! Du glaubst doch nicht, dass es diesmal anders laufen wird. Ich bitte dich, geh endlich zur Polizei oder nimm mein Angebot an und …«
»Ich bin fertig, Mama.« Nelli kam mit ihrem Drachenrucksack auf dem Rücken und ihrem giftgrünen Plüschdrachen Princesa Xavia unterm Arm ins Zimmer gehüpft.
Erleichtert atmete Ela auf, denn sie wollte die Diskussion nicht schon wieder führen. Zumindest nicht jetzt. Liebevoll schloss sie ihre Tochter in die Arme. Für einen Moment vergrub sie ihre Nase in Nellis schwarzbraunen Korkenzieherlocken und sog ihren cremigen Kindergeruch und den Duft des Himbeershampoos ein.
»Ich habe dich auch lieb, Mama.« Dann löste sich die Kleine aus der Umarmung, drückte ihr den Plüschdrachen in die Hand und schaute sie aus dunklen Kulleraugen ernst an. »Hab keine Angst. Bis ich groß genug bin, um dich vor Rocco zu beschützen, macht das Princesa Xavia. Sie hat Zähne und Krallen und Feuer und ist ganz doll stark. Dann pisst sich Rocco nämlich in die Hose und kackt gleich noch hinterher.«
Ela versteckte sich hastig hinter dem Plüschdrachen, damit Nelli ihre Rührung nicht sah. Wieder einmal hatte die Kleine viel zu viel mitbekommen – wie schon generell in ihrem kurzen Leben. Zudem sollte ein Kind seiner Mutter nicht das geliebte Plüschtier geben müssen, damit diese einen Beschützer hatte. Es sollte überhaupt nicht mit dem Gefühl leben, dass seine Mutter einen Beschützer brauchte. Das war einfach nicht richtig.
Um ihre Befangenheit zu kaschieren, wackelte Marcela rasch mit Princesa Xavia und erklärte mit verstellter Stimme: »Man sagt aber nicht pisst und kackt. Das gehört sich nicht.«
Wo hatte dieses Kind nur immer diese Ausdrücke her?
»Und was sagt man dann?«
»Man sagt: Er macht sich in die Hose.« Ela ließ den Drachen sinken.
»Nur macht? Für beides?« Nelli schaute sie empört an. »Aber dann weißt du doch gar nicht, ob er pisst oder kackt! Oder beides. Oder nur eins davon.«
Ein berechtigter Einwand. Aber Ela hatte einen Erziehungsauftrag zu erfüllen. Sie setzte Princesa Xavia auf ihren Knien ab und sich selbst ein wenig aufrechter hin.
»Du hast die zwei bösen Wörter schon wieder benutzt, Nelia. Im Prinzip ist es auch gar nicht wichtig, ob er Groß oder Klein in seine Hose macht. Hauptsache, sie ist schmutzig, stinkt, und Rocco fürchtet sich.«
»Doch, das ist wohl wichtig«, protestierte Nelli. »Denn …«
»Lass gut sein, Drachenmädchen«, unterbrach Katja sie und rettete Marcela so vor einer größeren Diskussion. »Deine Mama ist müde und muss jetzt nach Hause gehen. Verabschiedest du dich noch von mir?«
»Klaaar!« Nelli sauste zu ihr und warf sich in ihre ausgestreckten Arme. »Tschüss, Kati!«
»Tschüss, Drachenmädchen. Bring deine Mama gut nach Hause.«
»Mach ich.« Sie löste sich von ihr und sah sie einen Moment prüfend an. »Warum hast du denn die hübschen Spangen aus deinen Haaren gemacht?«
»Weil ich jetzt schlafen muss, und dann gehen die doch kaputt.« Sie fischte die Plastikklämmerchen vom Tisch und füllte sie in eine kleine Tüte. »Dreh dich mal um, dann packe ich sie dir in deinen Rucksack.«
Nelli tat, wie ihr geheißen, und Ela erhob sich. Nachdem das Tütchen verstaut war, streckte sie ihrer Tochter eine Hand hin. »Na, dann komm. Wir müssen los.«
Katja brachte sie noch zur Tür, wo sich die beiden Frauen umarmten.
»Auch wenn du es nicht hören willst, aber nochmals danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde.« Den letzten Teil betonte Ela besonders und fing sich prompt einen missbilligenden Blick ein.
»Dafür sind Freunde doch da. Und jetzt kommt gut nach Hause, ihr zwei.«
Knapp zwei Stunden später klickte Ela endlich auf »Senden«. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, den Blogartikel fertigzustellen. Vollkommen erledigt ließ sie sich auf ihrem Stuhl zurückfallen. Kati hatte absolut recht, sie arbeitete zu viel. Obendrein war ihr Job als virtuelle Assistentin für drei anspruchsvolle Unternehmen lausig bezahlt.
Heute mietete niemand mehr Büroräume, da die Firmen von zu Hause aus arbeiten ließen. Daher war der Bedarf an virtuellen Assistenten gigantisch. Leider gab es sie aber auch wie Sand am Meer. Die zeitliche Flexibilität war jedoch unschlagbar. Eigentlich mochte Ela lieber praktische Arbeiten, die man mit den Händen ausführte und die außerhalb der eigenen vier Wände stattfanden. Leider gab es davon durch den hohen Technisierungsgrad nicht mehr viele. Bis auf wenige Ausnahmen liefen sämtliche produzierenden Gewerbe vollautomatisch.
Marcela hätte nicht einmal putzen gehen können, auch das erledigten mittlerweile Maschinen. Ebenso die Pflege der üppigen Grünanlagen. Sie seufzte sehnsüchtig. Eine Arbeit an der frischen Luft, mit viel Bewegung und natürlichen Ressourcen. Das hätte ihr wirklich Spaß gemacht. Allerdings stand sie mit dieser Vorliebe ziemlich alleine da. Die meisten Menschen arbeiteten lieber von zu Hause aus, wo sie vor Wind und Wetter geschützt waren.
Da die letzte Energiekrise der Freizeitindustrie den Rest gegeben hatte, gab es auch dort kaum noch Jobangebote. Inzwischen lief in diesem Sektor das meiste über das Netz oder das Cyberversum – einen virtuellen Raum, in dem man nicht einmal persönlich vor die Kamera treten musste, sondern einen durchgestylten Avatar schickte. Das war bei einem Sportkurs durchaus hilfreich, denn mittels entsprechender Filter wurde so aus dem ungeschickten Bewegungsmuffel ein bewegliches Sport-Ass. Es lebe der Schein, denn die Virtual Skin machte immer eine gute Figur!
Doch inzwischen hatten einige Leute langsam genug vom ewig Virtuellen und vom allseits vorgegaukelten Perfektionismus, denn es formierten sich die ersten Gegenbewegungen, die Spaß am Exterior Sporting fanden. Wie in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts trafen sich die Sportbegeisterten an einem festgelegten Ort, um gemeinsam zu trainieren. Ganz ohne Avatar.
Diesem glücklichen Umstand hatte Ela ihre neue Tätigkeit als Dancemoves Instructor zu verdanken, die sie demnächst antreten würde. Der Job war vergleichsweise gut bezahlt, denn nur wenige waren bereit, sich ohne Virtual Skin den direkten Blicken tatsächlich anwesender Personen auszusetzen. Damit hatte Ela jedoch kein Problem. Außerdem liebte sie alles, was mit Tanzen zu tun hatte.
Allerdings war ihr Terminkalender schon sehr voll, und es würde verdammt hart werden, diesen Job auch noch unterzubringen. Neben ihren Aufgaben als virtuelle Assistenz kellnerte sie regelmäßig im Retro, einem Café, in dem keine Roboter, sondern echte Menschen bedienten. Obwohl Cafés und Restaurants ein Revival als Treffpunkte für soziale Interaktion feierten, wurde in den meisten Locations über ein virtuelles Menü direkt an den Tisch bestellt und bezahlt, woraufhin ein rollender Servierroboter das Gewünschte herbeibrachte.
Im Retro war das anders, womit es eine nostalgisch-sympathische Kuriosität darstellte. Da den Inhabern der persönliche Kontakt am Herzen lag, beschäftigten sie menschliches Personal. Natürlich wirkte sich das auf die Preise aus, doch es gab durchaus einen Markt für Lokale dieser Art. Ein weiterer Pluspunkt war, dass die zahlungskräftige Kundschaft gerne auch mal ein gutes Trinkgeld für ihren authentischen Retrotrip springen ließ.
Ela mochte die Arbeit, auch wenn sie anstrengend war. Jedoch bestand der große Nachteil darin, dass sie jedes Mal eine Betreuung für ihre Tochter organisieren musste. Ein Problem, das der neue Job als Dancemoves Instructor zusätzlich verschärfte. Zwar gab es überall die kostenlosen Kids Fun & Learn Deposits, für die brauchte man allerdings Kontingentkarten. Für die meisten Menschen stellte das kein Problem dar, da die Mehrheit ohnehin von zu Hause aus arbeitete und nur selten eine Kinderbetreuung in Anspruch nahm. Und selbst wenn öfter eine Betreuung benötigt wurde, bekam man unter Vorlage des Personalausweises problemlos sofort eine neue Karte. Eigentlich eine wirklich gute Sache.
Doch Rocco hatte Marcelas Papiere beschlagnahmt. Bis sie ihre Schulden beglichen hatte, wurde sie von ihm oder einem seiner Leute zum Deposit begleitet. Zwar durfte sie alleine hinein, um ihre neue Kontingentkarte zu holen, doch sobald sie herauskam, nahm die Schleuserbande ihr den Ausweis wieder ab. Obwohl ihr jeglicher Kontakt zu Rocco ein Gräuel war, musste sie die Prozedur regelmäßig über sich ergehen lassen. Schließlich konnte sie Nelli nicht am laufenden Band bei Katja abgeben, die tat ohnehin bereits viel zu viel für sie.
Alles wäre um so vieles leichter, wenn die persönliche Identifizierung einfach über Netzhaut und Fingerabdrücke erfolgen könnte. Die Technologie dazu gab es, und sicher war es obendrein, doch aus unerfindlichen Gründen bestanden sämtliche Staaten dieser Erde nach wie vor auf Ausweiskarten oder eine elektronische Variante davon. Und diese konnten einem nun einmal abgenommen werden.
Rocco anzuzeigen, war leider keine Option, denn die Reaktionszeit der Kriminellen war um so vieles schneller als die der Polizei. Ginge es nur um sie selbst, wäre Marcela das Risiko trotzdem eingegangen. Doch sie musste auch an Nellis Sicherheit denken.
Raoul stand vor einer auffallend deprimierenden Mietskaserne, der die Hoffnungslosigkeit aus jedem Fenster zu rinnen schien, und wusste nicht einmal genau, was er hier wollte. Ebenso fragte er sich, weswegen er vor knapp einer Woche überhaupt in diese trostlose Stadt gekommen war. Er war einer Art innerem Ruf gefolgt, obwohl er nun wirklich nicht der Typ für so etwas war. Doch irgendetwas hatte ihn buchstäblich hierhergezogen, weshalb er ziemlich neugierig gewesen war, was er vorfinden würde. Aber je länger er in dieser Gegend umherstreifte, desto mehr wuchs seine Ernüchterung. Hier gab es absolut nichts. Und das war noch die wohlwollende Betrachtungsweise.
Offenbar litt er unter einer fixen Idee oder hatte sich alles nur eingebildet. Oder beides. Allerdings wurde dieser merkwürdige Drang keinesfalls schwächer. Im Gegenteil. Raouls Körper weigerte sich regelrecht, diesen heruntergekommenen Ort zu verlassen. Nicht wirklich im physikalischen Sinne, aber Raoul hatte das zwingende Gefühl, etwas unfassbar Wichtiges zu verpassen, wenn er jetzt einfach verschwand. Daher hatte er beschlossen, noch ein wenig zu bleiben und die Augen offen zu halten, auch wenn er nicht wusste, wonach er suchen sollte – und ihm dieses drängende Gefühl obendrein immer mehr auf die Nerven ging. Aber da Zeit für einen Vampir ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielte, konnte er diese genauso gut hier verbringen anstatt irgendwo anders, obwohl er sich schönere Orte als diesen zum Verweilen vorstellen konnte.
Mit einer unwilligen Kopfbewegung schüttelte er sich das schwarze Haar aus den Augen.
Diese Stadt, Everyplace, eine nur wenige Jahre alte Neugründung, machte ihrem Namen alle Ehre. Sie war dermaßen reizlos, dass sie problemlos an jedem x-beliebigen Ort in jedem x-beliebigen Land hätte liegen können. Dabei war sie mit etlichen Millionen Einwohnern nicht einmal klein. Nur eben vollkommen charakterlos.
Gut, es gab ein paar nette Ecken, einige passabel gepflegte Grünflächen und vereinzelte Lichtblicke wie das Café Retro. Eines der wenigen, das auf Nostalgie statt auf Technisierung setzte und noch echte, menschliche Bedienungen beschäftigte. Raoul war zwar kein großer Nostalgiker, aber manchmal schätzte er das Flair vergangener Zeiten.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Umgebung zu. Warum ihn seine Füße ausgerechnet in diese heruntergekommene Gegend getragen hatten, würde wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Missbilligend blickte er an der schmutzig-gelben Fassade des etwa vierzigstöckigen Gebäudes hinauf, von der die billige Farbe bereits an unzähligen Stellen abblätterte. Wenn ihn dieses abgewirtschaftete Bauwerk schon so anzog, konnte er es sich genauso gut auch näher anschauen. Ohne große Erwartungen ging er auf die verkratzte Eingangstür zu, deren Glas von einem breiten diagonalen Sprung entstellt war. Als er dagegen drückte, schwang sie direkt auf. Dank seiner guten Augen hatte er schon von weitem gesehen, dass das Schloss kaputt war.
In früheren Zeiten wäre ihm nun ein muffiges Geruchsgemisch aus Urin, nassem Hund und diversen menschlichen Ausdünstungen, gespickt mit strengen Kochgerüchen entgegengeschlagen. Doch hier hatte der Fortschritt Einzug gehalten. Vor ihm lag ein fast schon klinisch sauberer Gang, dessen Putzmittelgeruch nach künstlichem Veilchen ihm unangenehm in der empfindlichen Nase stach. Da konzentrierte er sich lieber auf die vereinzelten Essensgerüche, die dazwischen umherschwebten. Nicht übermäßig appetitlich, doch besser als das penetrante Blumenimitat. Seit die Nahrung aus diesen Ersatzstoffen bestand, hatte sich das Problem lüftungsresistenter Kochgerüche größtenteils erledigt. Der moderne Mensch ernährte sich heutzutage hauptsächlich mit Ecotrophologic nurtrifibre bodywell food, kurz Nutrifood. Dabei handelte es sich um einen kostengünstigen Nahrungsmittelgrundstoff, der sich zu den unterschiedlichsten Konsistenzen, Geschmacksrichtungen und Erscheinungsbildern formen ließ und alles enthielt, was der menschliche Körper brauchte. Nutrifood imitierte sämtliche Eigenschaften des gewünschten Gerichts, bis hin zu dem dazugehörigen verführerischen Duft, allerdings ohne nervige Begleiterscheinungen wie Gemüseschnippeln, zeitraubende Garzeiten oder penetrante Küchengerüche.
Raoul tangierte die neue Ernährungsform der Menschen nicht weiter, da sie zum Glück keinen Einfluss auf die Qualität des Blutes hatte.
Routiniert wich er einem dobermanngroßen Wischroboter aus, der von einem in sein Holobook vertieften Mann bewacht wurde, damit er nicht gestohlen wurde, und folgte dem sterilen Gang bis zum Aufzug. Der Gegensatz zur Fassade hätte größer nicht sein können. Die beinahe schon unwohnliche Hygiene rührte nicht nur von den emsigen Putzmaschinchen her, sondern lag auch an der allgegenwärtigen Lotuswandfarbe, die in sämtliche Innenräume menschlicher Behausungen Einzug gehalten hatte. An dieser Farbe blieb nichts haften. Kein Schmutz, kein Graffiti, nicht einmal die Rückstände von Gegenständen, die an der Wand entlanggeschrammt wurden und für gewöhnlich meterlange Streifen hinterließen. Und das wichtigste: Keine Keime, vor denen die Menschheit seit etwa zehn Jahren in ebenso unberechtigter wie panischer Angst lebte. Wie für diese Spezies üblich, waren ihre diesbezüglichen Handlungen weder logisch durchdacht noch konsequent, hatten aber immerhin dafür gesorgt, dass auch in das Innere solcher heruntergekommenen Gebäude investiert wurde.
Einen deutlich passenderen Anblick in dieser Art Wohnblock bot da schon die verschrammte Metalltür des Aufzugs, auf die Raoul zügig zuschritt. Deren Design hatte sich seit der Erfindung des Lastenaufzugs kaum verändert. Allerdings blieben Fahrstühle nach der Einführung des Unterdruckverfahrens nicht mehr stecken, was dem Ganzen ein wenig den Reiz des Abenteuers nahm, den dieses spezielle Exemplar sonst zweifelsfrei ausgestrahlt hätte.
»Aufzug Erdgeschoss«, forderte Raoul die Elektronik auf und wartete.
Als die Türen sich schließlich öffneten, schoss eine dunkelhäutige junge Frau heraus und lief derart schwungvoll in ihn hinein, dass sie ins Straucheln geriet. Geistesgegenwärtig hielt er sie fest, damit sie nicht vollends das Gleichgewicht verlor. Viel Dankbarkeit erntete er dafür jedoch nicht.
»Verdammt, kannst du ni...«, fauchte sie, doch in der Sekunde, in der sie ihm ins Gesicht sah, brach sie abrupt ab. Ihre Augen weiteten sich, Erkennen blitzte darin auf, und in ihren Geruch, der eine eigenartig vertraute Note beinhaltete, mischte sich schlagartig das stechende Aroma von Angst. Die junge Frau stieß ihn förmlich von sich und machte einen Schritt Richtung Aufzug zurück, als wollte sie ihm den Zutritt verwehren.
»Pfoten weg! Verpiss dich, lass uns in Ruhe!«
Ihre heftige Reaktion kam Raoul ein wenig eigentümlich vor, war in einer solchen Gegend jedoch nicht unbedingt abwegig. Zumal es schien, als würde sie ihn mit jemandem verwechseln. Er ließ sie los, hob begütigend die Hände und trat beiseite.
»Hey, immer mit der Ruhe. Ich wollte nicht kuscheln, sondern nur in den Aufzug.«
Ihre dunkelbraunen Augen funkelten ihn feindselig an, das Kinn hatte sie erhoben, und Raoul konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn in Stücke reißen würde, wenn er sich auch nur einen Schritt näherte. Angst und Entschlossenheit strahlten in Wellen von ihr aus.
»Komm schnell, wir sind spät dran«, herrschte sie über ihre Schulter hinweg in die Kabine hinein, ohne Raoul auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Ein etwa fünfjähriges Mädchen mit einem grünen Plüschdrachen im Arm folgte ihrer harschen Aufforderung und betrachtete Raoul neugierig. »Wenn Mama es eilig hat, musst du schnell weggehen«, erklärte es ihm.
Demonstrativ trat er einen großen Schritt nach hinten und verbeugte sich. »Zu Befehl, junge Dame und werter Herr Drache.«
»Nein«, protestierte die Kleine. »Kein Herr. Princesa Xav...«
»Du sollst doch nicht mit Fremden sprechen!«, unterbrach die Mutter sie scharf, nahm das Kind an der Hand und zog es Richtung Ausgang. Auf halbem Weg drehte die Frau sich noch einmal kurz um und warf Raoul einen teils ängstlich-aggressiven, teils irritierten Blick zu.
Verblüfft schaute er den beiden hinterher.
Was war das denn gewesen? Gedankenverloren betrat er den Fahrstuhl. »Aufzug, oberster Stock«, befahl er abwesend. Die Begegnung hatte ihn auf eine Art aufgewühlt, die er nicht zu benennen vermochte. Und das lag nicht an der Erscheinung der jungen Frau.
Sicher, sie war eine Schönheit, schätzungsweise Mitte zwanzig und mit den blitzenden Augen absolut hinreißend anzuschauen. Ihr dunkler Teint ließ auf eine gemischte Herkunft mit afrikanischen Wurzeln schließen. Dazu hatten ihn ihr Temperament und ihr Mut beeindruckt, denn trotz ihrer offenkundigen Angst war sie nicht zurückgewichen, sondern hatte Raoul die Stirn geboten, auch wenn er ihr keinen Grund dafür gegeben hatte. Doch eine solche Reaktion legte den Schluss nahe, dass der jungen Frau in ihrer Vergangenheit schon Schlimmes widerfahren war – womöglich mit jemandem, der ihm ähnlichsah.
Jedenfalls war es ihr eindeutig um den Schutz ihrer Tochter gegangen. Dass es ihr Kind war, hatte ihm, neben der Anrede »Mama«, eine Gemeinsamkeit im Geruch verraten. Wenigstens hatte die Kleine nicht verängstigt reagiert, offenbar setzte die kämpferische Dame ihre Löwenmutterinstinkte mit Erfolg ein.
Nachdenklich strich sich der Vampir übers Kinn. Er wurde das eigentümliche Gefühl nicht los, die junge Frau zu kennen, obwohl er sich sicher war, ihr noch nie zuvor begegnet zu sein. Doch das lag vermutlich an der vertrauten Note in ihrem Duft. Nicht nur beim Aussehen gab es mitunter Ähnlichkeiten. Somit waren Gerüche, die sich glichen, nichts Ungewöhnliches.
Das »Pling« der sich öffnenden Aufzugtüren riss Raoul aus seinen Gedanken. Er trat aus der Kabine und sah sich unschlüssig im Gang um. »41« plärrte ihm die gut ein Meter hohe, unübersehbar in grüner Leuchtfarbe auf die Wand neben ihm gepinselte Nummer entgegen.
Fantastisch. Er hatte schon immer mal im 41. Stock eines heruntergekommenen Mietblocks stehen wollen. Was zum Teufel machte er hier?
Etwas zog ihn zum Fenster des Treppenhauses, und erst als er die junge Frau mit ihrer Tochter beim Hinausschauen nicht entdecken konnte, realisierte er zu seiner Verwunderung, dass er nach ihr Ausschau gehalten hatte.
Was hatte sie nur an sich? Im Laufe seines langen Lebens waren Raoul schon etliche Damen aus den unterschiedlichsten Gründen in die Arme gelaufen. Je nach Situation konnte Derartiges auch mal in einem netten Zeitvertreib enden, aber so gut wie nie hatte er bisher das Bedürfnis gehabt, mehr über die Dame wissen zu wollen.
Raoul schüttelte über sich selbst den Kopf, da er aber ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, beschloss er herauszufinden, wo sie wohnte, bevor die effiziente Passivlüftung ihre Spur endgültig vernichtete. Wer wusste schon, wofür diese Information einmal gut sein konnte? Dazu lief er das Treppenhaus nach unten und hielt auf jedem Absatz kurz inne, um nach dem Duft der jungen Frau zu forschen.
Im 16. Stock wurde er schließlich fündig. Hier waren die beiden eingestiegen. Links und rechts des Aufzugs befanden sich Glastüren, hinter denen schier endlose Gänge mit Wohnungen lagen. Zunächst öffnete er wahllos die Tür zu seiner rechten, doch hier riss die Geruchsspur sofort ab. Folglich lag sein Ziel links.
Kaum hatte Raoul die knarzende, schwergängige Glastür geöffnet, wusste er, dass er richtig war. Aufregung bemächtigte sich seiner, obwohl es dafür nun wirklich keinen Grund gab. Erneut schüttelte er den Kopf über sich. Nachdem er etliche Schritte in den düsteren Gang hinein gemacht hatte, bequemte sich auch der Bewegungsmelder zu einer Reaktion. Zwar brauchte ein Vampir kein Licht, aber für die Bewohner musste das träge Ding ein Ärgernis sein. Fast erwartete Raoul, dass einige der Lampen flackerten und die Hälfte ausgefallen war, doch die Zeiten der Neonröhren waren vorbei. Dank des technischen Fortschritts war die Beleuchtung zwar nicht mehr so anfällig, aber noch immer kalt und unpersönlich.
Langsam schritt er den Gang entlang, während er dem Duft der jungen Frau folgte. Eine identische Tür reihte sich an die nächste. Anhand der unterschiedlichen Abstände konnte man Rückschlüsse auf die Größen des jeweiligen Appartements ziehen. An der 18. Tür auf der linken Seite hatte Raoul schließlich sein Ziel erreicht. Hier war der Geruch am stärksten.
»Gonzales-Ndugu«, verriet ihm ein Blick auf das Namensschild.
Schön. Jetzt wusste er das auch. Erwartungsgemäß sagte der Name ihm gar nichts. Und was fing er nun mit dieser Information an? Falls er sich einen Hinweis erhofft hatte, warum er ihrer Spur gefolgt war: Hier wurde er nicht fündig. Dennoch zögerte Raoul zu gehen. Doch spätestens jetzt wurde es albern. Was zum Teufel wollte er noch vor dieser Tür? Vielleicht auf Mademoiselle Gonzales-Ndugu warten? Wenn er an ihre Reaktion vorhin am Aufzug dachte, wäre sie garantiert hocherfreut, ihn ausgerechnet hier anzutreffen. Falls er sie kennenlernen wollte, wäre das die Garantie, damit direkt zu Beginn zu scheitern. Im gleichen Moment merkte Raoul zu seiner Überraschung, dass er tatsächlich den Wunsch verspürte, die temperamentvolle Dame wiederzusehen und mehr über sie zu erfahren.
Ihm entfuhr ein Schnauben. Das war absurd. Seit wann interessierten ihn irgendwelche Zufallsbekanntschaften? Wobei Bekanntschaft in diesem Fall sogar eindeutig zu hoch gegriffen war. Zufallsbegegnung traf es eher. Allerdings änderte das nichts an der Tatsache, dass er die junge Frau kennenlernen wollte.
Na wunderbar, nun war es also offiziell: Dieses gesichtslose Everyplace lastete ihn offensichtlich nicht aus und langweilte ihn jetzt schon mehr, als ihm bewusst gewesen war. Am besten, er vergaß die ganze Geschichte so schnell wie möglich. Entschlossen drehte Raoul sich um und lief zurück ins Treppenhaus. Unten auf der Straße nahm er jedoch erneut ihre Duftspur wahr und konnte sich nicht verkneifen, dieser zu folgen, bis sie sich an der Airtrain-Station verlor.
Langsam ging sich Raoul mit seinem Verhalten selbst auf die Nerven. War er eigentlich vollkommen verrückt geworden? Er konnte doch nicht eine ihm gänzlich unbekannte junge Frau verfolgen! Aber wie auch immer, die Spur endete hier, und somit hatte sich diese Sache endgültig erledigt.
Er würde jetzt verschwinden und nie wieder an diesen Ort zurückkehren.
Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloss er, einen Spaziergang zu machen und dann ganz gemütlich einen Kaffee im Retro zu trinken.
Um diese Tageszeit war das Retro noch nicht gut besucht. Im Vorbeilaufen registrierte Raoul drei Frauen, die sich wohl zum Frühstück getroffen hatten, ein Pärchen, das sich verliebt anschmachtete, und einen Mann, der alleine saß und zum Fenster hinausstarrte. Als Raoul das Café betrat, drehten sich sämtliche Köpfe zu ihm, und wie üblich blieben die Blicke der Menschen an ihm haften. Das lag nicht allein an seinem anziehenden Äußeren, sondern vor allem daran, dass Menschen sich von der Aura latenter Gefahr, die Vampire umgab, gleichermaßen angezogen wie alarmiert fühlten. Doch ein einfacher, geistiger Befehl genügte, dass sie sich rasch wieder ihren eigenen Belangen zuwandten.
Die Einrichtung des Retro war in warmen Creme-, Beige- und Kaffeetönen gehalten, die mit einzelnen frühlingsgrünen und roten Akzenten durchsetzt waren. Vom Stil her erinnerte es ihn an die Cafés, die sich um die 2020-er Jahre herum oft an die Verkaufsräume der großen Bäckereiketten angeschlossen hatten.
Erst als Raoul sich vollkommen in Gedanken vertieft mit dem Rücken zur Wand an einem Tisch niedergelassen hatte, stieg ihm ausgerechnet der Duft in die Nase, den er seit geraumer Zeit zu vergessen versuchte. Schlagartig hellwach blickte der Vampir sich um. Unter den Gästen war ihm die junge Frau nicht aufgefallen, also musste sie hier arbeiten, auch wenn er sie zuvor noch nie gesehen hatte. Allerdings war er auch erst zweimal in diesem Café gewesen. Jedenfalls war es wohl das Beste, wenn er schleunigst den Rückzug antrat. Nach der negativen Begegnung von vorhin würde sie ihn garantiert für einen Stalker halten, wenn sie ihm jetzt schon wieder über den Weg lief.
Ein weiteres Mal wanderte Raouls Blick prüfend durch das Café, doch unter den Gästen befand sie sich definitiv nicht. Die Augen auf den leeren Tresen geheftet, erhob er sich, doch in dem Moment öffnete sich der Vorhang, der die Theke von den hinteren Räumen trennte, und die junge Frau trat hervor.
Merde.
Möglichst unauffällig ließ er sich wieder auf seinen Platz sinken und wünschte sich, die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, würde zum Repertoire eines Vampirs gehören. Dummerweise traf genau das Gegenteil zu. Vampire waren von Natur aus ähnlich unscheinbar wie ein Hai in einem Aquarium voller Goldfische. Ungünstiger hätte es nicht laufen können.
Erst jetzt merkte Raoul, dass der Anblick der jungen Frau ihn vollkommen gefesselt hatte. Ja, war er denn von allen guten Geistern verlassen? Wie konnte man nur so lahmarschig sein! Das hier war wirklich der denkbar schlechteste Zeitpunkt herumzutrödeln! In dem Moment, als er ihr den mentalen Befehl schicken wollte, unverzüglich in den Bereich hinter dem Vorhang zurückzugehen, ließ die junge Frau ihren Blick durch das Café schweifen.
Als sie Raoul entdeckte, nahm ihre braune Haut kurzfristig einen fahleren Ton an. Doch nur Sekunden später hatte sie den Schock überwunden und stürmte mit blitzenden Augen auf ihn zu. »Was willst du hier?«, giftete sie ihn gedämpft an, um die anderen Gäste nicht zu stören.
Erneut bewies sie Mut, denn er konnte ihre Angst deutlich riechen. Was war nur geschehen, dass sie so extrem reagierte? Dieser Sache würde er auf den Grund gehen.
Raoul lächelte sie charmant an. »Eigentlich nur einen Kaffee trinken … und etwas frühstücken«, fügte er noch schnell hinzu, was seine Aussage jedoch auch nicht glaubwürdiger machte, wie er ihrem Gesichtsausdruck entnehmen konnte.
»Sicher.« Ihre Stimme troff regelrecht vor Sarkasmus. »Verfolgst du mich etwa?« Sie stemmte die Arme in die Hüften.
Obwohl ihre Zweifel nachvollziehbar waren, grenzte ihr Misstrauen schon an Paranoia. Zugegeben, er hatte nachgeforscht, in welcher Wohnung sie wohnte, was sie zum Glück nicht wissen konnte. Aber ihr Aufeinandertreffen in diesem Café war wirklich reiner Zufall. Jedenfalls wurde es Zeit, dass sie sich ein wenig beruhigte.
Raoul setzte ein schiefes Grinsen auf und schaute sie belustigt an. »Darf ich dich daran erinnern, dass du mich über den Haufen gerannt hast? Ich wollte lediglich mit dem Aufzug nach oben, was ich auch gemacht habe, während du das Haus verlassen – oder den Putzroboter über den Haufen gerannt hast, was weiß ich. Klingt das für dich nach Verfolgung?« Gleichzeitig sendete er ihr mit seiner Gabe den Gedanken, dass er tatsächlich harmlos war, und beruhigte ihre aufgewühlten Gefühle.
Marcela, wie ihm das Namensschild an ihrer Schürze verriet, wollte erst noch etwas erwidern, doch dann wechselte ihr Gemütszustand von Verwirrung über Verunsicherung, bis sie ihn letztlich peinlich berührt ansah.
»Ich … Tut mir leid. Ähm, es ist gerade alles etwas viel.« Sie strich ein paar nicht vorhandene Falten auf ihrer Schürze glatt. »Ich wollte nicht … Ach, egal. Was willst du denn zum Frühstück?«
Dich.
Raoul konnte einen kurzen Blick zu ihrer Schlagader nicht vermeiden.
So etwas war ihm schon ewig nicht mehr passiert! Allerdings hatte er sich sofort wieder in der Gewalt.
»Mach dir keinen Kopf. Jeder hat mal einen schlechten Tag«, erwiderte er leutselig. »Ich nehme einen Kaffee, und zwar den echten. Schwarz. Und das Croissant mit Marmelade.«
Die Entscheidung für das Croissant bereute er jetzt schon. Auch wenn man mit der Verwandlung zum Vampir einen Großteil der Genussfähigkeit für normale Nahrungsmittel einbüßte, blieb ein kleiner Rest dennoch erhalten. Und das, was die Zukunft aus dem herrlichen französischen Croissant gemacht hatte, war unverzeihlich.
»Bringe ich sofort.« Marcela eilte hastig davon, um nur wenig später mit einem Tablett zurückzukehren. Schweigend und ohne ihn eines Blickes zu würdigen, stellte sie das Gewünschte vor ihm auf den Tisch. Sobald sie alles platziert hatte, verschwand sie beinahe fluchtartig.
Nachdenklich schaute Raoul ihr hinterher. Seine Faszination wuchs mit jeder Begegnung. Er wollte sie wirklich kennenlernen.
Das Einfachste wäre, Marcela nach ihrer Schicht abzupassen, sie zu beißen und ihre Erinnerungen an den Vorfall heute Morgen zu löschen. Dann konnten sie von vorne anfangen. Sollte er damit allerdings Erfolg haben – wovon er ausging –, würde er irgendwann auch ihre Tochter beißen müssen, um ihre Begegnung auch aus deren Gedächtnis zu löschen – und er biss keine Kinder. Nicht mehr. Das hatte er ein einziges Mal getan, kurz nach seiner Verwandlung, und dabei hätte er um ein Haar … Hastig verscheuchte er die unliebsame Erinnerung.
Doch davon einmal abgesehen stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass er Marcela auf keinen Fall manipulieren wollte.
Das war in der Tat ungewöhnlich, denn normalerweise befielen ihn solche Skrupel nicht. Die letzte Person, bei der ihm absolute Ehrlichkeit wichtig gewesen war …
Raoul unterdrückte ein Keuchen.
Nein.
Nein, das war nicht möglich.
Oder …
Doch, das war es. Das musste es sein.
Azothanok hatte ihm damals die Botschaft überbracht, dass …
Schockiert ließ Raoul das Croissant sinken, das er gerade zum Mund führen wollte. Sollte der Zeitpunkt endlich gekommen sein? War Marcela womöglich …
Das würde einiges erklären. Zumindest, warum er den seltsamen Drang verspürt hatte, sich in dieses unsägliche Everyplace zu begeben, geschweige denn vorhin in diese erbarmungswürdige Gegend.
Aber halt. Nichts überstürzen.
Raoul schüttelte sich unauffällig, um wieder zur Vernunft zu kommen.
Am Ende interpretierte er zu viel hinein und rannte lediglich einer längst verloren geglaubten Hoffnung nach. Wenn das Schicksal sie tatsächlich hatte zusammenführen wollen, wozu der Umstand? Ein zufälliges Aufeinandertreffen im Retro wäre doch deutlich einfacher gewesen. Ganz ohne ominöse Zusammenstöße vor irgendwelchen Aufzügen, die Panikattacken bei Marcela auslösten.
Jedenfalls würde Raoul sich etwas ausdenken müssen, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie in Ruhe kennenzulernen. Sobald er dieses Café verließ, würde auch ihr Misstrauen wieder aufflammen, das seine Gabe im Moment unterdrückte. Lediglich ein Biss hatte die Macht, ihre Erinnerung dauerhaft zu verändern, doch diesen Weg wollte er aus mehreren Gründen nicht gehen.
War sie es wirklich?
Allein die Möglichkeit, dass er mit seiner Vermutung recht hatte, wühlte ihn derart auf, dass er für sein Frühstück deutlich länger brauchte als sonst.
Zumindest sorgten seine wirbelnden Gedanken dafür, dass es ihm vollkommen egal war, was die Zukunft den Croissants angetan hatte.
Bis zum Feierabend hatte Ela wie auf glühenden Kohlen gesessen. Metaphorisch gesehen, denn tatsächlich war eine Menge losgewesen. Zum Glück, sonst hätte sie ihre Schicht vermutlich überhaupt nicht überstanden. Dazu hatte sie die Anwesenheit dieses außergewöhnlich gutaussehenden Typs im Café viel zu sehr durcheinandergebracht. Ihr Verhalten ihm gegenüber war ihr einfach nur peinlich gewesen. So lange er auf seinem Platz gesessen hatte, hatte sie wenigstens nicht diese latente Angst gespürt, aber kaum war er gegangen, hatte die Panik sie erneut befallen. Dass er nach dem Zusammenstoß am Aufzug hier aufgetaucht war, konnte doch unmöglich ein Zufall gewesen sein!
War er einer von Roccos Leuten? Aber warum hatte er dann nicht direkt versucht, sie einzuschüchtern? Wobei der Fremde sich ihr gegenüber eigentlich freundlich verhalten hatte. Oder handelte es sich dabei nur um eine neue Masche? Doch was sollte das bringen?
Allerdings wurde Ela dieses seltsame Gefühl nicht los, ihn zu kennen. Bereits bei dem Vorfall heute Morgen hätte sie schwören können, ihm schon einmal begegnet zu sein. Deswegen hatte sie ihn aus purer Panik auch so angegangen. Im ersten Moment hatte er sie an jemanden aus Kolumbien erinnert, was sie fürchten ließ, Rafail hätte einen seiner Schergen geschickt, um sie zu holen. Mit etwas Abstand und nüchtern betrachtet war das Unfug, denn Nellis Vater verfügte überhaupt nicht über die Mittel dazu. Und selbst wenn, dann wäre er garantiert persönlich gekommen und hätte Marcela an den Haaren zu sich zurückgeschleift. Allerdings war mittlerweile so viel Zeit vergangen, dass er vermutlich gar kein Interesse mehr hatte, sie zu holen. Geschweige denn seine Tochter.
Dennoch, sag niemals nie. Ein letzter Rest Panik ließ sich nicht verscheuchen, auch wenn Ela inzwischen sicher war, dass sie den Kerl noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Ein derart attraktiver Mann wäre ihr definitiv aufgefallen. Sie hatte schon immer eine Schwäche für weiße Männer gehabt, wobei sie allerdings kein Blond mochte. Dieser Typ fiel mit seinen schwarzen Haaren und den ungewöhnlich intensiven grünen Augen jedoch absolut in ihr Beuteschema. Mehr als das, mit seiner blassen Haut übererfüllte er es sogar noch. Woher ihr extremes Faible für diesen Typus Mann rührte, hatte sich Marcela noch nie erklären können.
Im Moment war es ihr allerdings auch herzlich egal, denn dafür beunruhigte die ganze Sache sie viel zu sehr.
Das konnte alles kein Zufall gewesen sein, so viel stand fest. Rocco oder Rafail, einer von beiden musste dahinterstecken.
Während Ela zu Fuß zum Kids Fun & Learn Deposit ging, konnte sie alles in Ruhe mit Kati besprechen. Zwar hätte sie ihre Freundin lieber persönlich getroffen, aber dann hätte Nelli wieder mehr mitbekommen, als sie sollte. Ungeduldig aktivierte sie ihr Phone.
»Ich hatte heute eine supermerkwürdige Begegnung«, sprudelte sie drauflos, kaum dass Kati sich gemeldet hatte, und berichtete ihr haarklein jedes Detail. »Ganz ehrlich, bin ich paranoid?«, schloss Ela schließlich ein wenig atemlos.
»Das bist du auf jeden Fall, Süße. Aber das wäre wohl jeder, dessen Schicksal in den Händen einer kriminellen Schleuserbande läge.«
Marcela stieß ein nervöses Lachen aus und fuhr sich durch die Haare. »Aber warum sollte Rocco mir diesen Typen auf den Hals hetzen? Er hat mich doch schon vollkommen in der Hand. Er weiß, wo ich wohne, wo ich arbeite, und war bisher zufrieden, solange ich ihm nur die nächste Rate gezahlt habe.«
»Vielleicht hat der Fremde ja gar nichts mit Rocco zu tun«, wandte Kati ein, aber Ela war noch zu sehr in Fahrt.
»Außerdem, wenn dieser Kerl mich einschüchtern soll«, fiel sie der Freundin ins Wort, »warum tut er es dann nicht? Ehrlich gesagt war er sogar recht höflich. Oder versucht Rocco mich neuerdings auf die subtile Art mürbe zu machen?«
»Also zunächst mal: Rocco und subtil? Das passt nicht zusammen. Ich weiß, das klingt jetzt nicht beruhigend, aber wenn er was von dir wollte, würde er entweder direkt dich oder Nelli bedrohen.«
Ela stieß die Luft aus. »Ich fürchte, damit hast du recht.«
»Jetzt also mal ganz langsam. Ich verstehe ja total, dass du misstrauisch bist, Süße, und das ist auch gut so. Aber ich glaube, das war wirklich purer Zufall. In deinem Block gehen unendlich viele Leute ein und aus. Natürlich ist es schräg, dass später ausgerechnet dieser Typ bei dir im Café aufschlägt. Andererseits fährt bei euch auch nur diese eine Airtrainlinie, und bis zur nächsten Umstiegsmöglichkeit gibt es kein einziges halbwegs anständiges Café.«
»Schon. Aber das Retro ist nun beileibe nicht das einzige in der Gegend!«
»Mag sein. Aber es ist das einzige mit menschlicher Bedienung. Manche mögen sowas eben. Und abgesehen davon, ist es mit Abstand das einzige, das zumindest ein bisschen Flair hat.«
Das stimmte. Ela stieß die Luft aus. Vielleicht hatte Kati ja recht, und sie war wirklich nur paranoid. Trotzdem. Ein kleiner Zweifel ließ sich nicht abschütteln.
»Was hältst du von meiner Theorie mit Rafail?«, hakte sie nach.
»Unwahrscheinlich.«
»Aber nicht unmöglich.« Marcela verlangsamte ihre Schritte. Wenn sie weiter so rannte, würde sie eine Extraschleife laufen müssen.
»Theoretisch nicht. Aber was sollte Rafail deiner Meinung nach von dir wollen?«
Ela zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Sich rächen? Oder vielleicht will er mir Nelli doch wegnehmen? Nicht, weil ihm was an ihr liegt, sondern nur, um mir eins auszuwischen.«
»Jetzt red keinen Unsinn. Nach allem, was ich von dir gehört habe, hat er sich nie groß für seine Tochter interessiert. Also warum sollte er sich plötzlich ein Kind ans Bein binden, nur um dir eins auszuwischen? Außerdem, er mag zwar ein Arschloch sein, ein Krimineller und übler Schläger, aber er ist auch ein armer Schlucker, der in Bogotá sitzt und weder das Geld noch die Möglichkeit hat, dir über die Entfernung irgendjemanden auf den Hals zu hetzen. Von der Intelligenz dazu ganz zu schweigen.«
»Punkt für dich«, murmelte Ela und fummelte nervös am Schulterriemen ihrer Tasche herum. »Langsam fühle ich mich wirklich paranoid. Zumal der Kerl vom Typ her kein Südamerikaner war. Gut, Rafail wirkt auch eher wie ein Europäer. Wenn ich genauer drüber nachdenke, ähneln sich die beiden von der Frisur und der Augenfarbe sogar. Wahrscheinlich bin ich deshalb überhaupt auf meinen Ex gekommen.« Ihr entfuhr ein schrilles Kichern, das selbst in ihren Ohren hysterisch klang. »Wobei das dem mysteriösen Fremden gegenüber unfair ist, denn der sieht um Welten besser aus.«
»Oha? Höre ich da etwa Interesse heraus?«
»Maria, hilf! Ganz bestimmt nicht! Ich hab im Moment echt andere Sorgen. Außerdem habe ich meinem komischen Beuteschema grünäugiger Weißer mit schwarzen Haaren längst abgeschworen – und zwar endgültig. Bisher hatte ich damit nur Ärger. Wenn ich überhaupt irgendwann mal wieder einen Typen will – also frühestens in zwanzig Jahren oder so – dann entweder einen hellblonden Wikinger, einen Rothaarigen oder einen anständigen Schwarzen.«
»Rassistin«, entgegnete Katja lachend. »Ich glaube, das Stichwort lautet wohl eher anständig. Hat sich nicht jeder Kerl, mit dem du dich bisher eingelassen hast, am Schluss als mehr oder weniger gefährlicher Krimineller herausgestellt? Vielleicht solltest du deine Auswahlkriterien besser mal dahingehend überdenken.«
»Das auch«, schmunzelte Marcela. In der Vergangenheit hatte sie tatsächlich einen außergewöhnlich schlechten Männergeschmack bewiesen. Aber wie hätte sie auch jemand Anständigen kennenlernen sollen? Sowohl die Verhältnisse, aus denen sie stammte, als auch die Gegend, in der sie aufgewachsen war, machten es einem Mädchen schwer, jemanden zu finden, der nichts auf dem Kerbholz hatte. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass Ela immer wieder mit haarsträubender Zielsicherheit ins Klo gegriffen hatte. Je besser ein Typ ihr gefallen hatte, desto länger war sein Vorstrafenregister gewesen. Abartig. Rafail hatte mit zwei Morden jedoch den Vogel abgeschossen! Ela schüttelte sich. Eine Tatsache, die sie sowohl Nelli als auch Katja lieber verheimlichte.
»Aber das Thema Männer ist für mich sowieso erledigt«, betonte Ela noch einmal. »Wie gesagt, ich habe genug Probleme.«
»Ja, das haben schon ganz andere behauptet, und dann …«, den Rest ließ Kati unheilschwanger im Raum stehen.
»No way«, wiegelte Ela im Brustton der Überzeugung ab. Für so etwas hatte sie nun wirklich keinen Kopf. »Sorry, ich muss Schluss machen. Ich bin gleich am Deposit angekommen. Mach’s gut!«
»Mach’s besser, Süße! Und denk über meine weisen Worte nach«, erwiderte Kati und legte auf.
Sicher. Nur gab es da nichts nachzudenken.
Allerdings stellte Ela jetzt, nachdem sie ihren Schock überwunden hatte, zu ihrem Entsetzen fest, dass ihr dieser rätselhafte Fremde eigentlich schon recht gut gefiel. Nein, ausgeschlossen. Sie durfte nicht einmal im Ansatz darüber nachdenken! So ein außergewöhnlich attraktiver Kerl gefiel wahrscheinlich jeder Frau. Daher hatte das überhaupt nichts zu bedeuten. Außerdem rannten da draußen eine Menge schöner Männer herum, trotzdem fing sie nicht mit jedem etwas an. Auch dann nicht, wenn irgendeiner davon in ihr seltsam festgefahrenes Beuteschema fiel – und das tat dieser Kerl auf geradezu groteske Weise.
Katja hatte verdammt recht, was Elas Händchen für Typen betraf, die gefährlicher waren, als ein anständiges Mädchen es sich leisten sollte. Wenn der Fremde ihr schon nach zwei kurzen Begegnungen derart zusagte, dann hatte er von seinen geschätzt knapp dreißig Jahren vermutlich schon sechzig im Gefängnis verbracht! Mindestens!
So, jetzt aber Schluss damit. Sie hatte tatsächlich andere Probleme, und das war keine Ausrede, sondern leider die pure Wahrheit. Wenn alles gut lief, würde sie diesen Kerl ohnehin nie wiedersehen. Energisch packte Ela den Schulterriemen ihrer Tasche fester.
Erst einmal musste sie Nelli abholen, und danach hieß es, die vielen Kundenaufträge abzuarbeiten, die sich zu Hause stapelten. Allein bei dem Gedanken an den unüberwindbaren Berg wurde ihr ganz anders.
Kurz bevor Marcela in die Straße einbog, in der das Kids Fun & Learn Deposit lag, fing sie plötzlich ein bulliger junger Mann mit blondem Bürstenhaarschnitt ab. Zlatko. Einer von Roccos Leuten. Ela gefror das Blut in den Adern.
»Hallo, Schätzchen.« Er grinste sie schmierig an. »Ich hab News vom Babo für dich. Hat Sehnsucht nach dir, der Gute.«
Das war schlecht. Sie hatte doch noch Zeit, bis die nächste Rate fällig wurde! Ela versuchte, sich ihre aufkeimende Panik nicht anmerken zu lassen.
---ENDE DER LESEPROBE---