Leseprobe

Die Reise des Karneolvogels 2 - Die Stadt der Gaukler

Der Dienstherr

 

Paco war schon längst in einem Zimmer im ersten Stock verschwunden, in der Hoffnung, Alessara auch dort anzutreffen. Seine Hoffnung wurde erfüllt.

„Wo bist du so lange gewesen?“, herrschte sie ihn an.

Wurde diese Frau eigentlich jedes Mal schöner? Bei jeder anderen hätte er zunächst mit einer Schmeichelei begonnen, doch er wusste, dass Alessara Komplimente bezüglich ihres Aussehens nicht sonderlich schätzte. Also hielt er sich zurück und genoss im Stillen.

„Bitte entschuldige, mein Kätzchen. Aber ich brauchte den Karneolvogel noch für ein paar persönliche Angelegenheiten.“

Alessaras Augen wurden schmal.

„Sie berühren deine Pläne selbstverständlich nicht“, beeilte sich Paco zu sagen. „Außerdem bin ich ja rechtzeitig zu dir zurückgekehrt.“

„Darf man erfahren, was das für 'persönliche Angelegenheiten' waren?“

„Ich musste noch eine Rechnung mit einem alten Bekannten begleichen. Aber wirklich, es war nichts, was etwas mit dir oder deinem Vorhaben zu tun hatte.“

Alessara seufzte. „Nun sei’s drum. Wo ist er?“

Paco zog das Artefakt aus dem Lederbeutel, den er bei sich trug, und überreichte es ihr mit einem dünnen Lächeln.

„Bitte sehr, mein Kätzchen. Hier ist er, unversehrt und immer noch rechtzeitig genug, um deine Pläne in die Tat umzusetzen.“

Mit einer anmutigen Geste nahm Alessara den Vogel entgegen.

„Du bist also der geheimnisvolle Karneolvogel. Das mächtigste der drei Artefakte“, murmelte sie und musterte eingehend die kleine Statue eines sitzenden Falken, der eine Schellenkappe auf dem Kopf trug.

Er war etwa acht Zoll hoch und ziemlich schwer. Alessara strich versonnen über den kühlen, glatt polierten Stein. Derjenige, der ihn vor vielen Jahrhunderten geschaffen hatte, musste ein Meister seines Fachs gewesen sein. Der Vogel schien sie unter seiner Schellenkappe hindurch aufmerksam zu beobachten. Obwohl die Statue schnörkellos und recht schlicht gehalten war, wirkte sie auf eine seltsame Art lebendig und man hatte fast den Eindruck, dass dem scharfen Blick des Falken nichts entging. Die klaren Linien auf der makellosen Oberfläche folgten geschickt dem natürlichen Muster des Steines. Sein Farbspektrum reichte von einem hellen Orange bis zu einem warmen Rotbraun, und ein verborgenes Feuer schien ihn aus seinem Inneren heraus zum Leuchten zu bringen; wenngleich er sich glatt und kühl anfühlte.

„Er ist wunderschön“, hauchte Alessara und das Glühen des Vogels spiegelte sich in ihren Augen wider. „Gemeinsam werden wir alles erreichen, was wir wollen.“

„Bekomme ich denn gar keinen Dank dafür, dass ich ihn dir gebracht habe?“, erkundigte sich Paco aalglatt. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte im Hintergrund zu stehen, doch von einem Steinvogel verdrängt zu werden war selbst für ihn zu viel.

Alessara, die seine Anwesenheit tatsächlich vergessen hatte, schreckte hoch.

„Äh, ja, natürlich. Danke, Paco, das hast du gut gemacht. Obwohl du dich ruhig schneller hättest herbequemen können!“

„Ganz mein Kätzchen, kein Dank ohne eine Rüge.“ Vielleicht würde sie ja ihre Dankbarkeit noch ein wenig ausweiten ...

Alessara warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu. „Ich bin gespannt, was Demetrius zu dem Vogel sagen wird!“

„Oh, Demetrius“, entfuhr es Paco ärgerlich. „Wieso ist es dir immer so wichtig, was Demetrius hierzu oder dazu sagt! Vergiss doch einmal diesen falschen Priester! Es ist unser Plan, Demetrius hilft uns dabei, aus welchen Gründen auch immer, aber letzten Endes ist es unsere Sache. Nur du und ich!“

„Ich finde es herrlich, wenn du dich so aufregst“, schnurrte Alessara und zog Paco zu sich heran. „Immerhin bist du es, der am häufigsten mit unserem Prediger verkehrt. Ihr seid doch schließlich die dicksten Freunde. Was macht dich eigentlich so sicher, dass er ein falscher Priester ist?“

Die körperliche Berührung besänftigte Paco augenblicklich.

„Wir sind nicht die dicksten Freunde. Ganz gewiss nicht! Er hat sich, äh, ... aufgedrängt. Außerdem weiß ich eben, dass er kein echter Priester ist.“ Er beugte sich zu Alessara herab, um sie zu küssen, doch sie entschlüpfte ihm und hauchte ihm nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Hervorragend. Du weißt es eben“, spöttelte sie. „Aber lassen wir das. Wer ist unten in der Halle?“

Paco war für einen Moment erstaunt. „Ach ja richtig, das verdammte, verräterische Parkett“, murmelte er. „Das vergesse ich immer wieder.“ Dann entsann er sich seiner unerwünschten Reisebegleiter und seine Miene verdüsterte sich.

„Da unten steht der Kerl, der mir geholfen hat, den Vogel zu stehlen. Jetzt hat er sich an mich gehängt und besteht drauf, bei meinem 'Dienstherrn' anzuheuern. Ein schrecklich grober Klotz, ich wüsste beim besten Willen nicht, zu was wir ihn einsetzen sollten.“

„Nun, wir werden sehen. Womöglich können wir einen Mann fürs Grobe ganz gut brauchen!“, entgegnete Alessara zu Pacos nicht geringem Unmut. „Dann wird sich dein 'Dienstherr' diesen groben Klotz einmal ansehen.“

„Aber Kätzchen, wir brauchen doch niemanden! Demetrius ist schon mehr als genug!“

Alessara drehte sich mit einem aufreizenden Lächeln um, bei dem Paco ganz schwummerig wurde.

„Eifersüchtig?“

Dann wurde ihre Miene kalt. „Schluss jetzt. Wen wir brauchen und wen nicht, bestimme immer noch ich!“ Damit entschwand sie durch die Tür auf die Galerie.

 

 

 

Öffentliche Vorwürfe

 

„Psst, halt die Klappe, Harry. Du weißt so gut wie ich, dass wir Hütchenspieler hier nicht gern gesehen werden!“

„Wen wundert’s?“, lachte der andere. „Sag mal, hat’s echt keiner geschafft, den Vogel zu gewinnen? Wenigstens ab und an ...“

Mehr hörte Riki nicht, da sie bereits den Zirkusleuten hinterherspurtete. Zum Glück waren diese noch nicht allzu weit entfernt.

„Kommt schnell, da vorne, das könnte unser Becherbetrüger sein!“, rief sie aufgeregt hinter sich deutend und machte sich schon wieder auf den Rückweg. Dabei wurde sie keine zwei Sekunden später von Ramiro überholt.

In dem Moment, als er des Gesichts des Becherbetrügers ansichtig wurde, blieb er so jählings stehen, dass Riki um ein Haar in ihn hinein gerannt wäre.

Ramiro beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor und näherte sich langsam, bis er in normalem Gesprächsabstand war.

„Paco?“, fragte er verblüfft.

Riki starrte verständnislos vom einen zum anderen. In der Zwischenzeit hatten auch die restlichen Zirkusleute aufgeholt.

„Hallo Ramiro“, sagte Paco ölig. „Ich sehe, du hast Verstärkung mitgebracht.“

Ramiro starrte Paco fassungslos an.

„Aber ich dachte, du seist tot!“, stammelte er schließlich.

Hass loderte in Pacos dunklen Augen auf. „Ja, das wäre ich auch fast gewesen, wenn nicht noch Hilfe gekommen wäre, nachdem du abgehauen bist!“

„Du hast nicht mehr geatmet! Ich habe dich für tot gehalten!“

„Also hast du mich liegen lassen wie ein Stück Dreck und bist auf Nimmerwiedersehen verschwunden.“ Unversöhnliche Feindschaft troff gallegleich aus jedem seiner Worte.

„Hätte ich mich neben deiner Leiche erwischen lassen sollen? Die hätten mich aufgeknüpft, ohne mir Zeit für Erklärungen zu geben!“ Ramiro klang halb verzweifelt, halb wütend.

„Nun, wie auch immer. Ich habe überlebt, du warst spurlos verschwunden. Wen interessiert’s noch? Du bist für mich erledigt. Und jetzt geh mir aus dem Weg, meine Geschäfte warten.“ Damit wandte sich Paco zum Gehen.

„Einen Moment bitte“, durchschnitt eine Stimme die eingetretene Stille, die sogar Paco zwang, stehen zu bleiben. Alarico trat vor. „Ich hätte eine Frage.“

Widerwillig drehte sich der Becherbetrüger um. „Die da wäre?“

„Sie sind doch einer dieser Hütchenspieler, richtig?“

„Ja. Ist das alles?“

„Nein. Haben Sie dabei den Karneolvogel als Preis ausgesetzt?“

„Iiiich? Aber wie kommen Sie denn darauf?“, erwiderte Paco mit gespieltem Erstaunen.

„Du warst es. Du hast mir den Vogel gestohlen!“, brauste Ramiro auf, der plötzlich deutlich den Zusammenhang vor sich sah. Das unverhoffte Zusammentreffen mit seinem früheren Kumpan hatte ihn das Artefakt für einen Moment vollkommen vergessen lassen.

„Also bitte, alter Freund“, entgegnete Paco schmierig. „Ich habe keinen Karneolvogel.“

Bevor er sich versah, hatte der Artist ihn am Kragen gepackt und zog ihn zu sich heran.

„Warum hast du das getan? Wo ist er?“, flüsterte er gefährlich ruhig.

„Lass das!“, empörte sich Paco und riss sich los, wobei er sein Hemd dort, wo Ramiro es berührt hatte, mit der Hand abwischte, als ob es beschmutzt wäre.

„Na schön. Ich habe den Karneolvogel nicht gestohlen, ich habe ihn mir geben lassen. Und er ist bei meinem Brotherrn. Zufrieden?“, raunte Paco in anbiedernder Vertraulichkeit.

„Ist Alessara deine Brotherrin?“, fauchte Ramiro.

Der Becherbetrüger blickte für einen Moment irritiert, fing sich jedoch gleich wieder. „Das werde ich dir gerade sagen.“

Ramiro stürzte sich auf ihn und drängte ihn gegen die Hauswand.

„Antworte!“

„Liebe Leute“, wandte Paco sich hilfeheischend an die nicht unbeträchtliche Zahl an Schaulustigen, die sich in der Zwischenzeit um sie herum angesammelt hatten. Ramiro drehte sich überrascht um, was der Hütchenspieler sogleich nutzte, um sich loszureißen.

„Hier“, Paco deutete mit einer geradezu dramatischen Geste auf Ramiro, „seht ihr den ehemaligen Hüter des Karneolvogels. Der Mann, dem die Werte des Kodex zu wenig bedeuten, um sich die Mühe zu machen, auf das wertvollste der Artefakte sorgfältig aufzupassen.“

Einige in der Menge traten knurrend einen Schritt vor. Die Luft war von einer eigenartigen Spannung erfüllt.

„Seht ihn euch genau an! Ist es rechtens, dass so jemand unsere Werte mit Füßen tritt?“

 

Ein paar Männer kamen kampfeslustig näher, und Riki empfand die Straße auf einmal als merkwürdig beengt. Sogar die Häuser schienen dichter heranzurücken, um bloß nichts zu versäumen.